Die Kennzeichen spirituellen Fortschritts - Teil 4

von Swami Veda Bharati


Wenn man sich die Frage stellt: 'Mache ich in meiner Meditation Fortschritte? Komme ich wirklich weiter?', so sollte man sich darüber im Klaren sein, dass Erfahrungen in der Meditation kein sicheres Anzeichen für Fortschritt sind. Es gibt nur eine Erfahrung, nach der man Ausschau halten sollte: das Fehlen von Erfahrungen. Habe ich aufgehört, zu erfahren? Die Dinge, die durch die Sinne hereinkommen, die aus meinen Erinnerungen aufsteigen, die aus meinen verborgenen samskaras emporkommen - habe ich aufgehört, diese Dinge zu erfahren?

SVBteach5 250rtDie einzig zuverlässige Erfahrung, sofern man sie als solche bezeichnen kann, ist Stille im Geist, das Versiegen der Bewegungen im Geist. Denn dann wird der Geist zu einem tiefen, gleichmäßig fließenden Strom. Nimmt man das wahr, so beobachtet der höhere Geist die Aktivitäten des niederen Geistes. Wenn der geistige Aspekt des Beobachters, buddhi, wahrnimmt, dass der niedere, aktive Geist ruhig und gleichmäßig fließt, ohne abzuweichen, dann macht man Fortschritte in der Meditation.

Zweitens - wenn man sich zur Meditation setzt: wie lange dauert es, in den Zustand der Meditation zu finden? Macht man Fortschritte in der Meditation, verkürzt sich die benötigte Zeitspanne, um in diesen Zustand des Fehlens von Erfahrungen einzutreten. Zugleich lässt sich spiritueller Fortschritt auch daran ablesen, wie lange der ungestörte Zustand des Geistes nach der Meditation im Alltagsleben bestehen bleibt. Wie lange bleibt diese Ruhe des Geistes erhalten? Wie lange bleiben die Sinne ruhig? Wie lange bleibt die Körperhaltung ruhig und stabil? Daran erkennt man, ob man in seiner Meditation Fortschritte macht oder nicht.

Sieben begrenzende Bedingungen

Diese Art von Veränderungen treten dann in der Meditation auf. Weisheit beginnt, aufzudämmern - sutra II.27 der Yoga-sutras spricht von den sieben Aspekten der Weisheit eines Verwirklichten. Zugleich damit werden sieben Zustände aufgegeben:

  • jijnasa: das Verlangen nach Wissen
  • jihasa: der Wunsch, zurückzuweisen oder zu beseitigen
  • prepsa: der Wunsch, etwas zu bekommen oder zu erreichen
  • cikirsha: das Verlangen zu handeln
  • shoka: Leid, Kummer
  • bhaya: Angst
  • vikalpa: gegenteilige Gedanken, Zweifel, Unsicherheit
Das Verlangen nach Wissen - jijnasa

Jijnasa ist das Verlangen nach Wissen - dieses Verlangen wird aufgegeben. 'Ich möchte dies wissen, ich möchte jenes wissen.' Wer nach dieser Art Wissen strebt, wird auch in tausenden Zyklen des Entstehens und der Auflösung nicht am Ziel ankommen. Gemeint ist hier die Art Wissen, die allein den Kopf mit Informationen füllt, nicht das wahre Wissen.

Ablehnung, Aversion - jihasa

Jihasa ist der Wunsch etwas zu beseitigen bzw. zurückzuweisen. Yoga wird zwar als das Verständnis über 'heya, heyahetu, heyahana, heyahanopaya' (siehe Vyasa-Kommentar zu YS II.27) beschrieben: das Verhindern, Vermeiden, Zurückweisen, Beseitigen dessen, was beseitigt werden sollte - nämlich Leid, Schmerz, Unwissenheit; die Ursache dessen zu begreifen, was zu beseitigen ist, also das, woraus es entstanden ist; die Tatsache und der Prozess, über das 'zu Beseitigende' hinauszuwachsen, sowie die entsprechenden Mittel dafür. Hat man jedoch den Punkt der siebenfachen Weisheit erreicht - 'saptadha pranta-bhumih prajna' (YS II.27), dann entsteht jihasa von selbst. Denn dann existiert nichts mehr, das verhindert, abgewehrt, vermieden oder beseitigt werden müsste, da es keine Unwissenheit und keinen Schmerz mehr gibt.

Persönliche Ziele - prepsa

Prepsa ist das Verlangen etwas zu erreichen, zu bekommen, zustande zu bringen: 'Ich möchte ein Haus besitzen, ein größeres Auto haben, meinen Ruf verbessern'. So lauten Wünsche der noch wenig entwickelten Menschen.

'Ich möchte Gedanken lesen können, Wunder vollbringen können, die Zukunft vorhersagen können. Ich will andere Menschen beeinflussen können'. All dies bezeichnet man als prepsa, das Verlangen etwas zu erreichen.

Der Wunsch zu handeln - cikirsha

Cikirsha ist das Verlangen zu handeln. Es geht hier nicht darum, untätig zu sein und jedes Handeln abzulehnen, vielmehr geht es um Überwindung des Verlangens, das hinter den Handlungen steht. Solange man keine spirituellen Fortschritte gemacht hat, handelt man immer mit einem bestimmten Eigeninteresse. Doch was geschieht, wenn man dieses Verlangen aufgibt? Dann verschwindet das Verlangen hinter der Handlung, nicht jedoch das Handeln selbst. Tatsächlich beginnt das Handeln dann erst, doch diese Art des Handelns erzeugt kein karma. Das Handeln frei von Eigeninteressen erzeugt kein karma.

Kummer, Schmerz, Leiden - shoka

Verbunden mit diesen vier Veränderungen treten drei sekundäre Veränderungen in der psychologischen Struktur der Persönlichkeit auf. Eine davon ist das Freiwerden von shoka - Kummer, Leiden: dem Schmerz bezogen auf das, was man nicht erreicht, nicht bekommen hat. 'Ich wollte mir das so gerne kaufen, doch ich konnte es mir nicht leisten. Ich bin so sauer darüber. Mein Nachbar hat es; ich werde ihn meinen Ärger spüren lassen.'

Shoka - das Leiden aufgrund verpasster Gelegenheiten oder verlorener Beziehungen. Diesen Kummer hält man im Geist lebendig, und dann handelt man aus diesem Kummer heraus. Dieser Schmerz bildet sich dann auch im Körperausdruck ab, in der Stimme, in der Art zu schauen. Andere fühlen sich davon beunruhigt, so dass sie vor dir davonlaufen möchten.

Angst - bhaya

Bhaya ist Angst. Aus dem bereits Verlorenen, das man betrauert, erwächst die Angst, 'Oh, wird mir das wieder passieren? Werde ich auch noch dies oder das verlieren?' Diese Art Ängste lernt man zu überwinden - die Angst vor dem Tod, die Angst vor Verlust seines Ansehens, die Angst, eine Beziehung oder seinen Besitz zu verlieren, und die größte Angst - die Angst vor Verlust seiner Persönlichkeit, seines derzeitigen psychologischen Zustands, mit dem der Großteil der Menschen aufs engste identifiziert ist.  Von allen Ängsten ist diese die ärgste, denn sie bewirkt, dass wir die nötigen Veränderungen der psychologischen Struktur der Persönlichkeit nicht vornehmen. 'Ich bin halt so, so muss man mich nehmen. Ich habe nicht die Absicht, mich weiter zu entwickeln oder mich zu ändern'.

Zweifel, gegenteilige Gedanken - vikalpa

Vikalpa sind gegenteilige Gedanken, Zweifel. In dieser Angst sind all unsere Wünsche, Kummer und Sorgen, Ängste und Unsicherheiten enthalten. Sobald man denkt: 'Ich sollte es auf diese Weise machen', taucht unmittelbar der gegenteilige Gedanke auf. Daher leben so viele Menschen in sogenannten Liebe-Hass-Beziehungen. Sie sind sich nicht sicher, ob sie jemanden lieben oder hassen. Andauernd ist man von Selbstzweifeln geplagt. Gedanken und gegenteilige Gedanken, Emotionen und gegenteilige Emotionen, Unsicherheit, sowie die Unfähigkeit, sich ein Ziel zu setzen: 'Soll ich es auf diese Weise angehen - oder auf jene Weise?' Man lebt in ständigem Zwiespalt - genau das ist vikalpa.

Macht man spirituelle Fortschritte, fallen diese sieben Anzeichen der Bindung und Unwissenheit ab. Dann gibt es auch keine weiteren inneren Konflikte und Zweifel mehr über seinen spirituellen Weg. Gemeint sind die subtilen inneren Konflikte betreffend unsere Überzeugungen: 'Soll ich diesem Lehrsystem folgen oder jenem? Soll ich an Jesus Christus glauben oder an Shiva?' Man erzeugt vielfache unnötige Konflikte. Konflikte betreffend die eigenen Überzeugungen, bezüglich seiner Emotionen und psychologischen Zustände. Ständig hin- und hergeworfen zwischen verschiedenen Emotionen, der Angst sich festzulegen, der Angst vor Konflikten.

Die Gegensätze integrieren

Ist man spirituell fortgeschritten, kann man sich innerlich festlegen und verpflichten, frei von der Angst vor Konflikten. Es entstehen keine inneren Konflikte mehr, denn der Geist ist allumfassend geworden; man erkennt, dass in allen Gegensätzen beide Aspekte wahr sind. Dies ist eine wirkliche spirituelle Befähigung: über die dvandvas, die Gegensätze hinauszugehen.

Man integriert die Gegensätze als komplementäre Kräfte in ihr gemeinsames Ganzes, und man erkennt, dass es in der Natur, im Universum und im Göttlichen keine gegensätzlichen Kräfte, sondern nur komplementäre Kräfte gibt. Mann und Frau sind nicht einander entgegengesetzt; sie ergänzen einander. Tag und Nacht sind keine Gegensätze; sie ergänzen einander.

Es gibt da einen sehr unbedeutenden spirituellen Lehrer und einen sehr großen, wohlbekannten spirituellen Führer. Beide haben zu den Geschehnissen am 11. September (2001) keine öffentliche Stellungnahme abgegeben. Sowohl ich wie der Dalai Lama haben nichts darüber geschrieben, denn niemand würde begreifen, dass es sich dabei nicht um ein einzelnes, für sich stehendes Geschehen handelt. Um zu erkennen, was deine Anwesenheit heute hier bei diesem Ereignis, auf deinem spezifischen Platz zu genau diesem Zeitpunkt bewirkt hat, muss man es zum einen als Tatsache vom heutigen Standpunkt aus betrachten, doch andererseits müssen unzählige Ketten von Ursache und Wirkung über die letzten fünfhundert Inkarnationen mit einbezogen werden. Jedes Ereignis ist im Kontext mit all den Inkarnationen zu sehen. Aus diesem Grund sagte Krishna zu Arjuna (in der Bhagavad-gita), 'Du nimmst diesen verheerenden Krieg als ein spezifisches Ereignis wahr, das heute geschieht. Doch ich habe all die vielen Lebensspannen gesehen, deine und meine. Ich kenne sie alle, doch du kennst sie nicht. Aus diesem Grund erscheint dir dieses eine Ereignis so bedeutend. Wachse darüber hinaus.'

Die Veränderung der Wahrnehmung von Zeit und Raum

Die Wahrnehmung der Zeit verändert sich, und man betrachtet alle Ereignisse im Kontext dieser langen Ketten von Ursache und Wirkung. Genau daraus entspringt Weisheit. Während alle anderen verwirrt, verärgert und verängstigt sind, hat man in sich dieses Verstehen. Und wenn die Menschen nicht bereit sind, darauf zu hören, so bleibt man still. Denn im spirituellen Leben gilt das Prinzip, dass man nur spricht, wenn es förderlich und hilfreich ist. Man hat kein Interesse mehr an Selbstdarstellung, man hat es nicht mehr nötig.

So wie sie das Erleben von Zeit verändert, so verändert sich auch das Raumerleben. 'Mein Dorf, meine Volksgruppe, meine Leute, mein Land, meine Nation', und so fort. Dein Gewahrsein von Raum verändert sich. Ein Yogi ist sich beständig der gesamten Welt bewusst. Tritt irgendwo eine Veränderung auf, so bemerkt er es und bei Bedarf handelt er. Die Wahrnehmung von Zeit und Raum im Alltagsleben verändert sich. Dann sind die Ereignisse in Indien nicht weniger wichtig als jene in Burkina Faso oder in den USA oder sonst wo auf der Welt. Denn man erkennt simultan die Verbundenheit von allem. Es ist eine ganzheitliche Sicht der Geschehnisse. Das Verständnis für die verschiedenen Ereignisse  verändert sich völlig, man betrachtet die Dinge nicht mehr vom Standpunkt einer Ameise aus, sondern wie aus einem Raumschiff. Die meisten von uns leben im Raum-Zeit-Horizont einer Ameise, in dem der Verlust eines winzigen Körnchens Zucker ausreicht, einen Krieg auszulösen.

Klare Zielsetzung

Wer auf dem spirituellen Weg Fortschritte macht, leidet nicht mehr unter solchen Konflikten. Das letztendliche Ziel ist dann völlig klar und wird niemals vergessen, niemals. Unabhängig davon, ob das Ziel spirituelle Befreiung ist, moksha, oder ein anderes nicht ganz so hohes Ziel - die unmittelbaren Schritte und die noch weiteren Schritte sind völlig klar. Es gibt diesbezüglich keine Unklarheit mehr. Man kennt auch genau die Mittel, die man dafür anzuwenden hat.

Der Geist ist in allen intellektuellen Prozessen vollständig klar, der zweigeteilte Geist löst sich auf. Das ist eine weit größere Errungenschaft, als die Gedanken anderer lesen zu können. Die Welt in ihrer Gesamtheit in einem Augenblick zu erfassen, so wie man jetzt einen kleinen Raum in einem Moment erfasst, ist eine weitaus bedeutendere Fähigkeit, als mit dem geistigen Auge zukünftige Ereignisse zu erkennen. Und auf dieser Grundlage trifft man seine Entscheidungen.

Fasse daher eine klare Definition dafür, was du unter Reinigung verstehst, was du unter spirituellem Fortschritt verstehst. Und ich verspreche dir, es ist nicht so viel verlangt. Das alles ist innerhalb deiner Reichweite. Man kann es in diesem Leben erreichen, während man ein ganz normales Leben als 'Haushälter' führt. Es bedarf nur der Entscheidung dafür, diese kleine Veränderung in der geistigen Einstellung zu bewirken.

Wie reagierst du, wenn dir jemand völlig unerwartet ins Gesicht schlägt? Macht man spirituelle Fortschritte, so ist deine erste Reaktion ein Lächeln. Es ist nicht so zu verstehen, dass du zuerst deinen Ärger unter Kontrolle bringen musst und ihn dann durch ein Lächeln ersetzt. Du hast vielmehr einen Wandel vollzogen. Einfach so.

Vollzieh diesen Wandel. Wenn du wieder von hier weggehst, schau dass du einige Dinge verändert hast. Wie lange sollen deine Schwächen noch dein Leben bestimmen? Tue es jetzt. Swami Rama sagte stets: 'Sei ein Chirurg, mach einen klaren Schnitt'.

Denke über diese Dinge nach. Ich unterrichte nichts, womit ich nicht selbst experimentiert habe.

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