Die Kennzeichen spirituellen Fortschritts - Teil 1
von Swami Veda Bharati
Nimmt man an einem Satsang (spirituelle Zusammenkunft) teil, sollte man diese Gelegenheit wirklich in vollem Umfang nutzen. Das bedeutet, dass man sich während dieser Zeitspanne vollständig auf das sich vorgenommene Ziel und auf den Prozess konzentriert. Yoga ist nicht darauf beschränkt, ein bestimmtes System oder eine Technik zu erlernen, es ist vielmehr ein Prozess, der zur vollständigen Wiederherstellung der Persönlichkeit führt.
Das Wissen um den kosmischen Prozess von pralaya und srishti, Auflösung und Neuentstehen (Schöpfung), finden wir in der Philosophie: erzeugen - auflösen; erzeugen - auflösen. Ständig werden alte Erfordernisse aufgelöst und etwas Neues entsteht. Wenn du von hier zurückkehrst, sollten die Menschen sagen können, 'Du hast dich verändert, du bist ein anderer Mensch'. Doch der Unterschied wird sehr subtil sein.
Mangel an Beständigkeit
Den meisten Menschen mangelt es an Selbstwahrnehmung, an Disziplin, an Stille, an Beständigkeit und Stabilität. Unser gesamtes Leben ist von Bewegung gekennzeichnet. Man bewegt sich erst hierhin, dann zu etwas anderem. Man erlebt Erfreuliches, dann folgen schmerzhafte Erfahrungen. Das eine will man haben, etwas anderes lehnt man ab; den einen Menschen mag man, den anderen jedoch nicht. Man ist ganz in eine Sache vertieft, doch dann entsteht eine kleine Störung oder kommt eine Bemerkung, und schon ist alles vorbei. Diese Eigenschaften unseres Geistes und unserer Emotionen bewirken Störungen auf der prana-Ebene. Die Energien fließen nicht mehr als harmonischer Strom, sondern einmal hierhin, dann dorthin. Dieses Fließen kennt kein Zentrum, es gleicht mehr einem Fluss, der alle zwei Stunden seine Fließrichtung ändert.
Freisein von Egozentriertheit
Meditation ist nicht etwas, bei dem man sich hinsetzt, die Augen schließt und die mala-Perlen zählt. Meditation, die nicht dein gesamtes Leben, deine Emotionen, deine Wünsche, dein Verlangen, deine Abneigungen, deinen prana-Fluss vollkommen durchdringt, ist wertlos. Sie ist nur Flucht vor dem Leben, Flucht vor Problemen und Schwierigkeiten. Jede Meditation, die vom Alltag abgetrennt ist, ist keine Meditation, so lehren es die Meister der Tradition. Meditation, die der Flucht vor dem Alltag dient, ist keine Meditation. Meditation, die zur Lösung von Alltagsproblemen führt, Meditation, die nicht egozentrisch ist, ist wahre Meditation - man ist selbstbewusst, jedoch nicht ich-zentriert.
In der ego-zentrierten Meditation kreisen die Gedanken um die Frage: 'Wie kann ich geistigen Frieden erlangen? Wie kann ich all meine Schmerzen überwinden?' Es geht ausschließlich darum, der Welt der eigenen Schmerzen und Probleme zu entfliehen.
Meditation, die von Egozentriertheit frei ist, weist gewisse Merkmale auf. Sie ist völlig dem göttlichen Willen und der Gnade der Guru-Linie gewidmet. Was ist mit Gnade gemeint? Betritt man gegen Mitternacht diese Meditationshalle hier, spürt man manchmal die sanfte Berührung von Stille im Geist - das ist Gnade. Man sitzt in der Gegenwart eines erfahrenen Meditierenden, und dein Geist findet zur Ruhe - das ist Gnade. Sich dieser Gnade hinzugeben, ist ein Merkmal wahrer Meditation. Nicht, dass man zum Lehrer, zu den Meistern läuft mit diesem oder jenem Problem: 'Meine Schwiegertochter hört nicht auf mich'. 'Meine Schwiegermutter ist streitsüchtig - Swamiji, tu etwas.' 'Meine Schwiegertochter kann keine Kinder bekommen - Swamiji segne sie.' Doch Swamiji leitet hier keine Kinderwunschklinik.
Ich sage dies insbesondere für die unter euch, die aus Indien stammen: ich bewirke keine Wunder. Ich besitze keine besonderen Fähigkeiten. Als mein Meister mir sagte, 'Ich möchte dir ein paar siddhis (besondere Kräfte) geben', habe ich meine Hände zusammengelegt und gesagt: 'Gurudev, ich bin nicht an siddhis interessiert. Wenn du mir samadhi (höchste Meditation) geben kannst, so gib mir das.' Aufgrund dieser Antwort hat er mich gebeten, euch hier zu dienen.
Manche eurer Erwartungen an einen spirituellen Lehrer, einen spirituellen Begleiter, sind daher unrealistisch. Was ich euch bieten kann, ist allein dieser kleine Tropfen der Stille, den mein Meister aus dem Ozean des Friedens, den er in sich trug, auf diese Person übertragen hat.
Stetigkeit
Warum könnt ihr nicht für längere Zeit meditieren? Weil ihr euch in eurem Leben nicht für längere Zeit auf eine Sache einlassen könnt. Weil ihr nicht in der Lage seid, ein einzelnes Gefühl stetig aufrecht zu erhalten, nicht einmal die Liebe zur eigenen Frau, dem eigenen Mann. Daher gelingt es auch nicht längere Zeit zu meditieren. So wie ihr im Leben zwischen verschiedenen Möglichkeiten hin und her schwankt, so schwankt ihr auch in der Meditation hin und her. Die Wirbelsäule ist nicht gerade, da die pranische Energie nicht zentriert fließt.
Es gibt zwei Wege: den Weg von innen nach außen und den Weg von außen nach innen. Diese beiden Wege sind ein und derselbe. Sich seines spirituellen Wesens bewusst zu sein. Dieses spirituelle Wesen, dieses atman, dieses Selbst, ist immer stetig und gleich. Der Sanskrit-Ausdruck dafür ist 'dhruva' (stetig, beständig, gleichbleibend). 'Naa dhruvahi, praapyate hi dhruvant tat' - 'Durch unstetig Mittel kann man das Beständige nicht erlangen'. Die Beständigkeit deiner Gefühle wird sich in deinem Körper ausdrücken. Stetigkeit, Beständigkeit ist jedoch nicht gleichbedeutend mit Bewegungslosigkeit. Es gleicht eher dem beständigen Fließen des Wassers im Fluss - es ist nicht nicht starr, sondern stetig.
Emotionale Stabilität
Lernt man, sich achtsam zu bewegen, achtsam zu sitzen, entsteht ein gewisses Maß an emotionaler Stabilität, auch in den Beziehungen. Oft erlebe ich, wie seit langem Übende in Meditation sitzen, wunderbar, tief - und wie ruhig ihre Augen sind, wenn sie aus der Meditation kommen. Doch dann ist dieser Moment vorüber, und schon tauchen die gleichen Störungen auf. Das ist der Fall, weil man der Wirkung der Meditation nicht gestattet hat, den gesamten Körper zu durchdringen und für ein ruhiges Fließen des prana zu sorgen.
Will man eine Gewohnheit verändern, so braucht es anfangs einigen Einsatz: 'Ach, ich hab's vergessen! Das werde ich nie schaffen!' Verurteile dich nicht. Denk lieber an die Male, als es dir möglich war, identifiziere dich mit diesen Momenten. Das ist das Göttliche in dir. Identifiziere dich mit dem Göttlichen in dir. Karma Yoga bedeutet Yoga im Handeln zu üben. Yoga zu üben, während man sich auszieht und die Kleider wegräumt, während man seine Schuhe auszieht. Hier beginnt das asana-Üben. Die Art wie du deinen Meditationsplatz vorbereitest, deine Decke faltest, ganz natürlich, ohne künstlich zu werden.
Was immer man beständig wiederholt, wird zu einer Gewohnheit. Eine sattvische Gewohnheit entsteht aus dem Inneren, aus der sattvischen göttlichen Natur. Im Laufe der Zeit wird sich sogar das Gesicht verändern, und die Menschen erkennen einen nicht wieder.
Die Methoden des Yoga unterrichten - das tun heute alle, es gibt keinen Mangel an Gelehrten. Man kann all die Texte übersetzen - es gibt keinen Mangel an Dozenten. Doch wie schaut es mit der inneren Stabilität aus? Dafür braucht es nicht nur sattva, man muss sich auch um tamas kümmern. Werde tamasisch! Steht sattva im Dienst von tamas, entsteht daraus Stillstand. Steht jedoch tamas im Dienst von sattva, resultiert daraus Stabilität.
Bewusstheit
Der Körper besteht zu 70% aus Wasser, trotzdem behält er dank tamas seine Form. Die tamasische Kraft stabilisiert die Körpergestalt. Übe daher auch tamas. Doch zwischen Stagnation und Stabilität besteht ein Unterschied. Beides sind Funktionen von tamas. Es geht um die rechte Stabilität und Stetigkeit des Körpers, um die Beständigkeit des Blickes. Manche üben trataka (fokussierte Ausrichtung des Blicks), sie setzen sich hin und blicken in eine Flamme. Doch wenn sie in ihrem Alltag gehen und sprechen, wenn ihre Augen und der Geist aktiv sind, achten sie nicht mehr darauf. Solange man nicht gelernt hat, jederzeit bewusst zu schauen, kann man sich noch nicht als Meditierende/n bezeichnen, gleichgültig in wie viele Flammen man blickt.
Sei dir bewusst, dass du schaust. Sei dir deiner Bewegungen bewusst. Sei dir deines Atems bewusst. Sei dir bewusst, was du fühlst, wahrnimmst, beobachtest. Sei dir bewusst, dass du sitzt, dich zurücklehnst, dich hinlegst, kniest oder stehst. Das ist spirituelle Praxis.
Halte deine Stirn entspannt - übe dich darin. Versuche einen Tag lang, deine Stirn entspannt zu halten, und du wirst eine Veränderung in dir wahrnehmen. Ist deine Stirn entspannt, kannst du dir keine Sorgen machen, du kannst nicht ärgerlich sein, du kannst nicht ängstlich sein. Es ist eine sehr fortgeschrittene Praxis, probiere es aus. Es handelt sich um Grundlagen; die einfachsten Dinge sind am schwierigsten. Probiere diese einfachen Dinge aus.
Der Körper eines Yogi bleibt immer still - so wie eine Kerzenflamme ruhig brennt, wenn es keinen Lufthauch gibt.
Wenn der Geist aktiv ist und der höhere Geist als Beobachter sich stets dieser Aktivitäten bewusst ist, wenn selbst im Schlaf der höhere Geist den ruhenden niederen Geist beobachtet - dann ist man auf dem Weg.
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