Mantra und Stille
von Swami Rama
Klänge vibrieren lediglich, sie besitzen keine buchstäbliche Bedeutung. Mantras funktionieren auf einer tieferen Ebene als der ihrer wörtlichen Bedeutung. Ein mantra ist wirksam aufgrund seiner Klang- und Schwingungsqualitäten.
Stell dir vor, am Ufer eines Flusses zu stehen und der Strömung zu lauschen. Folgt man dem Strom flussaufwärts, kommt man zu seinem Ursprung, und dort wird man feststellen, dass kein Klang mehr hörbar ist. Ein mantra funktioniert genau auf diese Weise; es führt den Geist in die innere Stille. Diesen Zustand nennt man den 'klanglosen Klang'.
Form entsteht aus Klang
Verstärkt man die Klänge oder mantras der sieben cakras, so erzeugen sie eine Form. Jedes mantra erzeugt eine andersartige Form. Den äußeren Klang zu verstärken ist jedoch ohne Nutzen. Man muss zur inneren Quelle des Klanges gehen, aus der er entsteht. Die äußere Form vermittelt die Kenntnis des Klanges, der Klang vermittelt die Erkenntnis der Stille, aus der alle Klänge entstehen. Es geht darum zu lernen, in die Stille zu gehen, sowohl physisch wie mental.
Es gibt eine Wissenschaft, die tiefer ist als die Wissenschaft der cakras, doch sie wird nicht in irgendwelchen Textbüchern dargelegt. Die Gurus vermittelt sie ihren Schülern nicht durch Bücher oder Worte, sondern allein durch Stille. Wenn man sich in Stille befindet, kommunizieren sie mit dir durch Stille und in Stille. Jene Schüler, deren Geist darauf eingestimmt ist, finden darin die besten aller Lehren. Diese stille Kommunikation ist unabhängig davon, wo man sich physisch aufhält, egal ob man 10.000 Meilen weit weg ist oder ob man sich sehr nahe zueinander befindet.
Klang entsteht aus der Stille
Die Wirksamkeit des mantras hat nichts mit der Bedeutung der Worte zu tun. Es ist die Wirkung des Klanges, durch die es dem Geist möglich wird, still zu werden und letztendlich über den Klang hinauszugehen, um die innere Stille zu erfahren. Klänge steigen aus der Stille auf.
Beispielsweise ist 'lam' der Klang, der im Wurzelcakra erzeugt wird. Dieses 'lam' selbst ist ein verstärkter Klang. Er entsteht aus der Stille. Wird die potentielle Energie der Stille im Wurzelcakra manifest, formt es das bija-mantra 'lam'. Doch diesen Klang in seiner verstärkten Form zu kennen, ist nicht wirklich hilfreich. Will man die subtileren Aspekte des mantras erschließen, so muss man, wie die Weisen, in den Zustand der Stille gehen. Aus dieser Stille gehen all die Ströme hervor, die den großen nada, den großen Klang hervorbringen. In dieser Stille findet man die wirkliche Bedeutung des mantras heraus. Aus der Stille entsteht Klang, und aus dem Klang entsteht die Form.
Vier Ebenen eines mantras
Ein mantra hat vier Körper, Hüllen oder koshas. Als ein Wort hat es eine bestimmte Bedeutung; eine subtilere Form ist seine Gefühlsqualität; noch subtiler findet man eine tiefe, intensive und fortwährende Präsenz oder Bewusstheit; und die vierte, subtilste Ebene des mantras ist der klanglose Klang. Viele Schüler praktizieren ihr mantra ein Leben lang, und finden doch nicht zum Zustand des ajapa-japa - dem Zustand fortwährender Bewusstheit frei von Bemühung. Sie stärken ihr Gewahrsein, doch sie meditieren nur auf der grobstofflichen Ebene.
Die mantras, die man für die stille Meditation nutzt, sind spezielle Verbindungen von Klängen, durch die der Atemfluss nicht behindert oder gestört wird, vielmehr helfen sie den Atem zu regulieren und führen zum Erwecken der sushumna. Dabei fliesst der Atem in beiden Nasenflügeln in gleicher Stärke. Daraus entsteht ein freudvoller Zustand des Geistes und der Geist ist willentlich von den Sinnen gelöst.
mantra und ablenkende Gedanken
Doch dann muss ein Schüler mit den aus dem Unbewussten aufsteigenden Gedanken umgehen lernen. Gewohnheitsmäßig ruft der bewusste Geist Erinnerungen aus den tiefen Ebenen des unbewussten Geistes ab. Das mantra unterstützt dabei, diesen Prozess hinter sich zu lassen. Das mantra erzeugt eine neue Spur im Geist und der Geist beginnt dann spontan in dieser vom mantra erzeugten Spur zu fließen. Wird der Geist konzentriert, einpunktig und einwärtsgerichtet, so blickt er direkt in den latenten Bereich des Unbewussten und findet dort, früher oder später, ein glänzendes Licht.
Unser Geist wird gewöhnlich nur im tiefen, traumlosen Schlaf einigermaßen still. Die restliche Zeit tendiert der Geist dazu, wie ein nichtverankertes Boot dahinzutreiben. Den Geist durch einen Fokus der Aufmerksamkeit zur Ruhe zu bringen, ist eines der Ziele der mantra-Praxis. Diese Art Konzentration beinhaltet keine Bemühung, Anspannung oder mentale Belastung, es geht allein um 'fokussierte Aufmerksamkeit' im Gegensatz zum sonst zerstreuten, abgelenkten Zustand des Geistes. Es ist ein wachsamer und dabei doch entspannter Fokus der Aufmerksamkeit. Das sollte nicht schwer zu erreichen sein, sofern man entspannt und ungezwungen bleibt.
Das mantra sollte man nicht praktizieren ohne seine Bedeutung zu kennen. Bevor man es im Geist wiederholt, sollte man von seiner Bedeutsamkeit überzeugt sein. Es sollte mit Sinn und Gefühl praktiziert werden. Eine papageienartige Wiederholung des mantras ist von geringem Wert. Der Zweck von japa, der Wiederholung des mantras, ist, den Geist in die höheren Dimensionen, in die höheren Stufen der Meditation zu führen.
Meditation im Handeln
Letztlich wird das mantra zu einem festen Bestandteil des Lebens, das alles mit Bewusstheit durchdringt. Die Bedeutung und das Wesen des mantras sollte sich auf solche Weise mit jedem Atemzug verbinden, dass man sich des mantras unter allen Bedingungen stets bewusst ist. Und wenn der Geist mit diesem fortlaufenden mantra einpunktig wird, vertieft sich auch das Interesse am Übungsweg, sadhana. Bringt man sein japa mitten hinein in seine weltlichen Aktivitäten, bezeichnet man es als 'Meditation im Handeln'.
Ablenkungen in der mantra-Praxis
Im Geist entstehen häufig Gedanken und Gefühle, die scheinbar plötzlich auftauchen. In der Meditation fokussiert man die Aufmerksamkeit auf das mantra und erlaubt diesem mentalen Lärm, still zu werden. Manchmal jedoch wird die Aufmerksamkeit von anderen Dingen angezogen. Sobald das entsteht, sollte man die Gedanken und Assoziationen in seinem Geist einfach nur beobachten, und die Aufmerksamkeit sanft wieder zurück zum mantra bringen. Es ist dabei tatsächlich wichtig, in sich kein Tauziehen zu veranstalten, sich nicht in mentale Argumentationen zu verlieren oder über sich selbst zu ärgern oder sich wegen dieser gedanklichen Ablenkungen zu verurteilen. Es werden weiterhin Gedanken aufsteigen, doch die meisten werden sich auflösen, sobald man sie in neutraler Weise beobachtet, ohne einen inneren Konflikt zu erzeugen.
Wenn unerledigte Fragen auftauchen, so lasse ich sie zu und sage, 'In Ordnung, komm.' Was man normalerweise versucht ist, sein mantra zu erinnern; man benutzt also sein mantra dazu, bestimmte Bedingungen und Situationen zu vermeiden oder ihnen zu entkommen. Doch nach einiger Zeit wandert der Geist wieder zurück zu denselben Sorgen. Das ist in keiner Weise hilfreich.
Stattdessen lässt man alles vor sich auftauchen, um dann eine Entscheidung zu treffen - man beobachtet nur. Erst wenn in meiner Praxis all diese Gedanken durch den Geist gegangen sind, beginne ich, mein mantra zu erinnern. Gewöhnlich versucht man, sein mantra von Anfang an zu erinnern, doch da warten all diese Gedanken darauf, Gehör zu finden. Doch du beachtest sie nicht; genau deshalb tauchen fortlaufend diese Gedanken auf, während man doch versucht, sein mantra zu praktizieren. Je mehr Gedanken aufsteigen, desto intensiver versucht man, sein mantra zu wiederholen - und als Ergebnis entsteht ein innerer Kampf. Das ist weder hilfreich noch notwendig.
Dem mantra lauschen
Ich wende das mantra auf andere Weise an als ihr. Ich beobachte, wie mein ganzes Wesen dem mantra lauscht. Weder erinnere ich das mantra, noch wiederhole ich es mental, denn in diesem Fall wird der Geist auch viele andere Dinge wiederholen. Stattdessen verwandle ich mein ganzes Wesen in ein Ohr, das dem mantra lauscht, und dann entsteht das mantra von überall her. Das wird für euch in der Meditation nicht unmittelbar entstehen; macht man jedoch Fortschritte, wird man es erfahren können. Dann wird das mantra selbst dann auftauchen, wenn man es gar nicht praktizieren möchte. Es ist dann nicht mehr möglich, sein mantra nicht zu erinnern. Letztlich hört das mantra auf, zu existieren. Es bleibt nur noch der Zweck, zu dem man das mantra wiederholt, man ist angekommen. Das mantra ist vielleicht weiterhin präsent, doch jetzt als eine Erfahrung, die dein ganzes Sein überwältigt, es ist nicht mehr von dir getrennt.
Den Geist erforschen
Im Prozess der Meditation muss man lernen, seinen Geist zu erforschen, damit das mantra tatsächlich wirksam werden kann. Die erste Stufe der Meditation besteht darin, den Geist zu reinigen. Es ist notwendig, den Gedankenprozess und die Inhalte des Geistes zu beobachten. Gedanken werden auftauchen und wieder verschwinden, doch man sollte stets Zeuge dessen bleiben. Man sollte sich nicht mit Gedanken, Bildern und Symbolen identifizieren. Auf diese Weise erkennt man, welche Gedankenprozesse hilfreich und welche nachteilig sind. Man sollte sich stets daran erinnern, dass die Abfolge von Gedanken von uns selbst erzeugt ist; sie sind unsere eigenen Erzeugnisse, daher beeinträchtigen sie uns.
An diesem Punkt der Meditationsschulung wird ein mantra unschätzbar wertvoll sein. Das mantra ist wie ein Same und wir selbst sind das Erdreich, in das es gesät ist. Das mantra benötigt Zeit, um zu wachsen, und es muss gut gehegt werden. Wenn man es beharrlich mental und still in sich wiederholt, wird dieses neue Objekt wachsen und allmählich den Geist besetzen. Und später dann wird man nicht mehr seine Gedanken beobachten, sondern man beginnt, sich selbst im Wiederholen seines mantras zu beobachten.
Stille
Vor allem sollte man diese eine Sache erinnern: es ist sehr einfach, dem Unendlichen in sich zu begegnen. Um diese Bewusstheit zu erlangen, muss man nur still sein. Beruhigt man seinen Geist und gestaltet ihn einpunktig, kann er all diese geistigen Bereiche durchdringen, die menschliche Wesen gewöhnlich nicht durchdringen können, und dann wird man die innere Wirklichkeit wahrnehmen. Erinnere dies: du gehst in die Stille, du gehst in die Stille, du gehst in die Stille.
Viele sind damit beschäftigt, nutzlosen oder bedeutungslosen Klängen zu lauschen, die ungünstige Auswirkungen auf den Geist ausüben. Lerne, dich selbst in Stille zu versetzen. Es ist deine übliche Gewohnheit, deine ganze Erziehung und Schulung ist darauf angelegt, dich in die Klänge der äußeren Welt zu verlieren. Lerne stattdessen, zur Quelle der Stille zurückzufinden. Das ist die Methode der Meditation, eine Reise nach innen.
In der Kathopanishad beschreibt der König des Todes den Prozess, durch den ein Aspirant das wahre Selbst verwirklichen kann. Er sagt, 'Verschmelze die Worte in die Gedanken'. Mit 'Worten' meint er die Kraft der Sprache. Die Worte, die wir sprechen, sind Ausdruck unserer Gedanken. Kein Wort wird geäußert, hinter dem nicht ein Gedanke steht. Tatsächlich sind Worte und Gedanken ein und dasselbe, doch Gedanken sind subtiler, feiner, während die Worte grobstofflicher sind.
(Swami Rama beschreibt, dass immer wenn er sang, ein Gedicht verfasst oder gemalt hat, sein Meister Einwände erhoben hat. Er gab ihm den Rat, solche Zerstreuungen zu meiden und stattdessen Stille zu praktizieren. Sein Meister sagte,) 'Die Stimme der Stille ist das Höchste. Sie ist jenseits aller Ebenen des Bewusstseins und aller Methoden der Kommunikation. Lerne, auf diese Stimme der Stille zu horchen. Anstatt die Lehren zu diskutieren und mit Weisen zu argumentieren, genieße einfach nur ihre Anwesenheit. Du befindest dich auf einer Reise; bleib daher nicht lange an einem Platz und halte an nichts fest. Die Stille kann dir geben, was die Welt dir niemals geben kann.'
Die Weisheit der Stille
Manchmal lehren große Lehrer ihre Schüler durch Stille. Die besten und tiefgründigsten Lehren werden nicht durch Bücher, Sprache oder Handlungen vermittelt, sondern durch Stille. Diese spezielle Belehrung kann man nur verstehen, wenn man still ist. Manchmal erfährst du die Sprache dieser Stille, man bezeichnet sie als sandhya-bhava, das Gefühl der Freude und der Ausgeglichenheit. Sandhya ist die Hochzeit von Tag und Nacht. Wenn ein Lehrer einen Schüler fragt, 'Hast du dein sandhya durchgeführt?', ist damit gemeint, 'Hast du einen Zustand der Ausgeglichenheit und der Freude erlangt, bevor du meditierst?'
Mantra führt dich zur Quelle der Stille, es führt deinen Geist in diesen Zustand der Stille. Der Geist möchte gewöhnlich nicht in diese Stille gehen, er ist noch so voller Wünsche. Doch wenn man eine neue Spur erzeugt, fließt der Geist nicht mehr in den alten Spuren und beginnt stattdessen, in den neuen Spuren zu fließen, die du bewusst erzeugt hast. Diese neuen Spuren führen dich in die Stille. Das Ziel in der Meditation ist, in jene Stille zu finden, aus der alle Weisheit hervorgeht.
Stille - Ursprung aller Klänge
Alle Klänge gehen aus der Stille hervor. Ein Moment wahrer Stille reicht für ein Jahr. Wenn mir jemand ein Jahr Vergnügen oder einen Moment absoluter Stille zur Wahl anbietet, so wähle ich den einen Moment der Stille. Versetzt man sich selbst in absolute Stille, wird man verstehen, was immer man zu verstehen wünscht.
Der letzte Schritt der Meditation ist es, in dieser Stille zu bleiben. Diese Stille kann nicht beschrieben werden. Stille öffnet das Tor zu intuitiver Einsicht, und Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft werden offenbart. Diese Stille findet man jenseits von Körper, Atem und Geist. Aus dieser Stille entstehen Frieden, Zufriedenheit und Seligkeit. Diese Stille wird zum persönlichen Aufenthaltsort eines Meditierenden.
Führt man seine Praxis durch, wird man unweigerlich Fortschritte machen, obwohl man häufig die subtilen Fortschritte auf tieferen Ebenen nicht wahrnimmt.
Die Gurus vermitteln ihre besten Lehren, das Herz ihrer Weisheit, in Stille. Wenn du dich innerlich in dieser Stille befindest, kommunizieren sie mit dir auf dieser Ebene. Um also Fortschritte zu machen, führe deine Praxis durch. Der Lehrer hat seine Verantwortung. Diese Verantwortung endet, wenn er seinen Schüler auf den Pfad der Stille führt, durch den alles Wissen erlangt wird.
Erinnere dies:
du gehst in die Stille, du gehst in die Stille, du gehst in die Stille.